Bundesgerichtshof
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Bundesgerichtshof

Keine Pflichtteilsentziehung durch Wahl ausländischen Erbrechts

Urteil vom 29.06.2022 Az IV ZR 110/21

Leitsatz

Die Wahl englischen Erbrechts nach Art. 22 Abs. 1 EuErbVO verstößt dann gegen den deutschen ordre public, wenn sie dazu führt, dass bei einem Sachverhalt mit hinreichend starkem Inlandsbezug der Pflichtteilsanspruch eines Kindes entfiele.

Sachverhalt

Der 1936 geborene Erblasser war britischer Staatsangehöriger. Er lebte seit seinem 29. Lebensjahr in Deutschland, wo er auch seinen letzten Wohnsitz hatte.

Mit notariellem Testament vom 13. März 2015 setzte der Erblasser die Beklagte als Alleinerbin ein und widerrief alle zuvor von ihm errichteten Verfügungen von Todes wegen. Für die Rechtsnachfolge von Todes wegen wählte er das englische Recht als Teilrecht seines Heimatstaates. Der Nachlass besteht aus einer im Inland belegenen Immobilie sowie diversen weiteren Gegenständen. Der Kläger, der enterbte Sohn, ist deutscher Staatsangehöriger macht unter Hinweis auf sein Pflichtteilsrecht Auskunftsansprüche gegen die Erbin geltend.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Auskunft über den Bestand des Nachlasses zu erteilen.

Urteilsbegründung

Die Revision der Beklagten dagegen hatte keinen Erfolg.

Die Anwendung englischen Rechts ist im zur Entscheidung anstehenden Fall mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar. Denn das englische Recht steht zu der nach deutschem Recht verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch, dass dessen Anwendung im hiesigen Fall untragbar ist. Dies hat zur Folge, dass es hier keine Anwendung findet.

(1) Das Pflichtteilsrecht ist als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 19. April 2005 (BVerfGE 112, 332 ff.) klargestellt, dass dem Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers unter Verweis auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter im Sinne einer grundsätzlich unentziehbaren und bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass zukommt.

Das englische Recht kennt demgegenüber keinen bedarfsunabhängigen und nach festen Quoten berechneten Anspruch eines Abkömmlings nach dem Tod des Erblassers. Ein Pflichtteilsrecht, wie es der deutschen Rechtsordnung entspricht, ist dem englischen Recht fremd.

Die hier maßgebliche Frage, ob das Fehlen eines Pflichtteilsanspruchs ohne das Eingreifen kompensatorischer Ansprüche des Anspruchstellers nach englischem Recht gegen den deutschen ordre public verstößt, ist umstritten. Eine Auffassung geht davon aus, dass sich ein Durchschlagen des deutschen Pflichtteilsrechts auf andere Rechtsordnungen durch die Anwendung des Art. 35 EuErbVO verbietet (vgl. Ayazi, NJOZ 2018, 1041, 1045 ff.; im Ergebnis offenlassend Herzog, ErbR 2013, 2, 5; zurückhaltend Simon/Buschbaum, NJW 2012, 2393, 2395). Eine andere Ansicht hält einen Verstoß gegen den deutschen ordre public bei einem Pflichtteilsentzug, der sich – wie vorliegend – auf volljährige und wirtschaftlich unabhängige Abkömmlinge beschränkt, im Einzelfall nicht (Ludwig/A. Baetge in jurisPK-BGB, 9. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 9, 17, 21 [Stand: 2. März 2022]; Röthel in FS v. Hoffmann 2011, S.  348, 361 f.; Staudinger/Dörner, (2007) EGBGB Art. 25 Rn. 726; Staudinger/Beiderwieden, juris PR-IWR 6/2021 Anm. 2) oder erst dann für gegeben, wenn der Betreffende deshalb der deutschen Sozialhilfe zur Last fällt (MünchKomm-BGB/Dutta, 8. Aufl. EuErbVO Art. 35 Rn. 8 m.w.N.). Die überwiegende Auffassung nimmt demgegenüber – wie auch das Berufungsgericht – an, dass es der in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG verankerten Garantie einer bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern widerspricht, wenn einem Abkömmling nach dem gewählten Recht kein Anspruch auf Teilhabe am Nachlass zusteht, so dass in diesen Fällen ein offensichtlicher Verstoß gegen den deutschen ordre public vorliegt (vgl. Bauer/Fornasier in Dutta/Weber/Bauer, 2. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 11; BeckOGK/J. Schmidt, EuErbVO Art. 35 Rn. 22.2 [Stand: 1. Februar 2022]; Grüneberg/Thorn, BGB 81. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 2; Hohloch in FS Leipold, 2009 S. 997, 1005; Köhler in Kroiß/Horn/Solomon, Nachfolgerecht 2. Aufl. Art. 35EuErbVO Rn. 8; Lehmann in Schlitt/Müller, Handbuch Pflichtteilsrecht 2. Aufl. § 14 Rn. 371 – 373; Looschelders in FS v. Hoffmann, 2011, 266, 280; Lorenz in Dutta/Herrler, Die Europäische Erbrechtsverordnung, 2014, Rn. 28; NK-BGB/Looschelders 3. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 25; Pintens in Löhnig/Schwab ua (Hrsg), Erbfälle unter Geltung der Europäischen Erbrechtsverordnung, 2014, S. 1, 29; J. Schmidt in Bamberger/Roth/Hau/Posek, 4. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 22.2; Soutier, Die Geltung deutscher Rechtsgrundsätze im Anwendungsbereich der Europäischen Erbrechtsverordnung, 2015, S. 223 ff.; Voltz in Staudinger, BGB (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 190 [Stand: 31. Mai 2021]; Walther, GPR 2016, 128, 131).

Die letztgenannte Ansicht trifft jedenfalls für den hier zu beurteilenden Sachverhalt aufgrund seines hinreichend starken Inlandsbezuges zu.

Quelle: Pressemitteilung BGH